aus: Robert Anton Wilson: Der neue Prometheus (1983)
[CENTER]Kapitel 1
Der Denker und der Beweisführer
Alles was wir sind,
ist das Resultat dessen,
was wir gedacht haben.
Unsere Existenz gründet auf Gedanken.
Sie basiert auf dem,
was wir denken.
Buddha
Dhammapada[/CENTER]
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William James, der Vater der amerikanischen Psychologie, berichtet von einer Begegnung mit einer alten Dame, die davon überzeugt war, dass die Erde auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte ruhte.
"Aber gute Frau", meinte Professor James so höflich er konnte, "was hält die Schildkröte denn aufrecht?"
"Ach", antwortete sie, "das ist doch ganz einfach. Sie sitzt nämlich auch wieder auf dem Rücken einer Schildkröte."
"Verstehe, verstehe", murmelte der Professor, immer noch höflich. "Aber wären Sie wohl so gut, mir zu sagen, was die zweite Schildkröte aufrecht hält?"
"Geben Sie sich keine Mühe, Professor", sagte die alte Dame, die wohl merkte, dass er versuchte, sie in eine logische Falle zu locken. "Es sind Schildkröten und nochmals Schildkröten, eine auf der anderen!"
Lachen Sie nicht über diese kleine alte Dame. Jedes menschliche Gehirn funktioniert größtenteils nach dem gleichen Prinzip. Mag sein, dass ihr Universum ein kleines bisschen ausgeflippter war als die meisten anderen, aber es basierte auf den gleichen geistigen Prinzipien wie all die anderen Universen, an die die Menschen je glaubten.
Laut Dr. Leonard Orr verhält sich das menschliche Gehirn so, als wäre es in zwei Hälften geteilt, den Denker und den Beweisführer.
Der Denker kann buchstäblich alles Mögliche denken. Die Geschichte zeigt, dass er beispielsweise denken kann, die Erde balanciere auf dem Rücken unendlich vieler übereinandergestapelter Schildkröten, oder die Erde sei hohl oder die Erde schwebe im Raum. Das glauben übrigens Millionen von Menschen, einschließlich der Autor. Vergleichende Religionswissenschaft und Philosophie zeigen, dass der Denker sich für sterblich, unsterblich, für sterblich und unsterblich zugleich (das Reinkarnationsmodell) oder auf für nicht-existent (Buddhismus) halten kann. Er kann sich jederzeit in ein christliches, ein marxistisches, ein wissenschaftlich-realistisches oder ein nationalsozialistisches Universum hineindenken - unter vielen anderen Möglichkeiten.
Wie Psychiater und Psychologen häufig beobachten (sehr zum Verdruss ihrer Kollegen von der medizinischen Fakultät), kann der Denker sich krank, aber auch selber wieder gesund denken.
Beim Beweisführer handelt es sich um einen sehr viel einfacheren Mechanismus. Er funktioniert einzig und allein nach folgendem Gesetz:
Was immer der Denker denkt, wird der Beweisführer beweisen.
Um auf ein berüchtigtes Beispiel zurückzukehren, das zu Anfang unseres Jahrhunderts unvorstellbares Grauen provozierte: Wenn der Denker denkt, dass alle Juden reich sind, wird der Beweisführer das beweisen. Er wird sogar Indizien dafür finden, dass auch der ärmste Jude im heruntergekommensten Ghetto noch irgendwo irgendwelche Schätze versteckt hat.
Wenn der Denker denkt, dass sich die Sonne um die Erde dreht, wird der Beweisführer geflissentlich sämtliche Sinneseindrücke so filtern, dass sie in dieses Gedankengebäude hineinpassen; wenn der Denker jedoch seine Meinung ändert und entscheidet, dass sich die Erde um die Sonne dreht, wird der Beweisführer wiederum sämtliche Indizien umorganisieren.
Wenn der Denker glaubt, dass das "Heilige Wasser" von Lourdes seinen Hexenschuss kurieren kann, wird der Beweisführer alle Signale von Drüsen, Muskeln und Organen so aufeinander abstimmen, dass sie wie von selbst genesen.
Natürlich ist es ein Leichtes, zu beobachten, dass die Gehirne anderer Leute auf diese Art und Weise funktionieren, aber verhältnismäßig schwierig, sich darüber klar zu werden, dass es mit dem eigenen Gehirn nicht viel anders ist.
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[CENTER]Übungen[/CENTER]
So traurig es ist, aber Sie werden nie etwas wirklich verstehen, wenn Sie einfach nur einen Text lesen. Deshalb gehören zu jeder wissenschaftlichen Ausbildung auch Experimente im Labor und deshalb verlangt jede bewusstseinsbefreiende Bewegung praktische Übungen in Yoga, Meditation, Konfrontationstechniken usw., mit denen die verschiedenen Ideen im Labor Ihres Nervensystems getestet werden können.
Folglich wird der Leser diesen Text auch auf keinen Fall verstehen, wenn er auf die am Ende jedes Kapitels empfohlenen Übungen verzichtet.
Zur Erforschung Ihres Denkers, bzw. Beweisführers versuchen Sie folgendes:
- Denken Sie so intensiv wie möglich an ein normales 10-Cent-Stück und stellen Sie sich vor, Sie würden eine solche Münze auf der Straße finden. Jedesmal, wenn Sie spazierengehen, suchen Sie auf der Straße nach ihr und versuchen Sie auch weiter, ihr Bild stets vor Augen zu haben. Warten Sie ab, wie lange Sie brauchen, um ein solches 10-Cent-Stück zu finden.
- Erklären Sie das oben beschriebene Experiment mit der Hypothese der "selektiven" Wahrnehmung, d.h. glauben Sie, dass die Straßen voll sind von verlorengegangenen 10-Cent-Stücken und dass Sie garantiert eines finden, wenn Sie nur die Augen offen halten. Suchen Sie jetzt nach einem zweiten 10-Cent-Stück.
- Erklären Sie das Experiment anschließend mit der "mystischen" Hypothese, dass das Gehirn alles beeinflusst. Glauben Sie, dass Sie selbst das 10-Cent-Stück in diesem Universum manifestiert haben. Suchen Sie nach einem zweiten 10-Cent-Stück.
- Vergleichen Sie die Zeit, die Sie benötigen, um das zweite 10-Cent-Stück mit Hilfe der ersten Hypothese (selektive Wahrnehmung) zu finden, mit der, die Sie brauchen, wenn Sie von der zweiten Hypothese (Gehirn über Materie) ausgehen.
- Strengen Sie Ihr Köpfchen an und erfinden Sie ähnliche Experimente. Vergleichen Sie jedes Mal die beiden Theorien, also "selektive Wahrnehmung" (=Zufall) im Gegensatz zu "Kontrolle des Gehirns" (=Psychokinese).
- Vermeiden Sie es, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen. Nach einem Monat lesen Sie dieses Kapitel noch einmal, denken Sie von neuem darüber nach, verzichten aber auch weiterhin auf jede dogmatische Folgerung. Glauben Sie, dass es möglich ist, nicht alles wissen zu können und vielleicht noch etwas dazulernen zu müssen.
- Wenn Sie nicht sowieso schon davon überzeugt sind, dann versuchen Sie einmal sich einzureden, dass Sie unattraktiv, hässlich und langweilig sind. Gehen Sie mit dieser Einstellung auf eine Party und beobachten Sie, wie die Leute sie behandeln.
- Wenn Sie nicht sowieso schon davon überzeugt sind, dann versuchen Sie einmal sich einzureden, dass Sie bübsch, witzig und unwiederstehlich sind. Gehen Sie mit dieser Einstellung auf eine Party und beobachten Sie, wie die Leute sie behandeln.
- Jetzt kommt die schwierigste Übung, sie besteht aus zwei Teilen. Erstens, beobachten Sie aufmerksam, aber unbeteiligt, zwei gute Freunde und zwei relativ Fremde. Versuchen Sie, dahinter zu kommen, was ihre Denker denken und wie ihre Beweisführer sich methodisch daran machen, dies zu beweisen. Zweitens, wenden Sie dieselbe Übung auf sich selber an.
Wenn Sie der Meinung sind, die Lektionen dieser praktischen Übungen in weniger als sechs Monaten gelernt zu haben, haben Sie irgendwas falsch gemacht. Ansonsten sollten Sie nach sechs Monaten gerade anfangen zu begreifen, wie wenig Sie über irgendwas auf der Welt wissen.
- Glauben Sie, dass es möglich ist, vom Boden abzuheben und durch die Luft zu schweben, nur weil Sie es wollen. Warten Sie ab, was passiert. Wenn Sie von dieser Übung genauso enttäuscht sind wie ich, dann fahren Sie mit Übung 11 fort, die nie enttäuschend ist.
- Glauben Sie, dass Sie all Ihre bisherigen Wünsche und Hoffnungen in sämtlichen Bereichen Ihres Lebens übertreffen können.
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