Der nationale Sozialismus, der mit Hitler 1933 die Macht ergriff, hat in der Tat seinen Vorläufer in den Ansichten des als SPD-Gründer verstandenen Ferdinand Lassalle (1825-1864). Dessen Ideologie hatte sich als solche nicht durchgesetzt, weil mit der Reichsgründung durch Bismarck der Nationalismus erstmals mit dem Konservatismus verschmolzen wurde. Damit kam dem Nationalismus das ihn seit 1800 kennzeichnende (sozial-) revolutionäre Potential abhanden, das Lassalle als Befürworter eines als republikanischen Einheitsstaates [sic] zu errichtenden sozialistischen Großdeutschlands zum Repräsentanten des Nationalismus gemacht hatte. [...]
Lassalles Position sollte nicht verwundern, weil zu seiner Zeit "Nationalist" und "Demokrat" fast identische Begriffe darstellten. Unter Demokratie verstand Lassalle die Verwirklichung der Freiheit durch ein die Trennung von Staat und Gesellschaft aufhebendes System, in dem jede individuellen Partikularismen verschwinden, so dass jeder mit jedem übereinstimmt und somit frei ist. Lassalle nahm dabei den zentralen Glaubenssatz des Faschismus vorweg, wonach Fortschritt Organisation bedeutet, wodurch wiederum die Individualrechte zunehmend an Bedeutung verlieren würden. In der Arbeiterschaft vermutete Lassalle die größte Diktaturbereitschaft. Dementsprechend war für ihn Hauptzweck der Demokratie, für die er nachhaltig mit der Forderung des allgemeinen Wahlrechts eintrat, einen Führer als "großen Mann" an die Macht zu bringen, der durch die "Diktatur der Einsicht" und "nicht durch die Krankheit des individuellen Meinens und Nörgelns die große gewaltige Übergangsarbeit der Gesellschaft" bewerkstelligen würde. [...]
Anders als Marx, der die nationale Frage durch den internationalen Klassenkampf als Lösbar ansah, stellte sich für Lassalle die geschichtliche Entwicklung dergestalt dar, dass die Arbeiterschaft nur in einigen Staaten die Demokratie, das heißt die Diktatur errichten würde, und sich dabei das Problem der Verteidigung und Durchsetzung des Fortschritts ergab. Dies erforderte dann einen starken Staat zum Schutz gegen reaktionäre Angriffe und zur Durchführung von Eroberungskriegen. Diese Prämissen implizierten das Eroberungs- und Assimilationsrecht der fortschrittlichen Staaten, das bei Angehörigen "verschiedener Rasse das Aussterben" in Kauf nahm. Sozialismus würde sich demnach weltweit durch die Vorherrschaft eines Volkes verwirklichen. Zur Ausübung derselben hielt Lassalle die Deutschen deshalb für besonders geeignet, weil ihre Kultur am meisten im Geistigen wurzeln und ihr die spezifischen nationalen Charakteristika fehlen würden. Deshalb könne die deutsche Kultur die Grundlage sein, mit der Aufhebung der nationalen Unterschiede das Ende der Geschichte herbeizuführen: Die Bestimmtheit des germanischen Geistes bestünde darin, die gesamte Kulturidee zu einer Einheit zusammenzufassen. [...]
Lassalles Idee eines nationalen Kommunismus, dessen philosophische Prämissen erlaubten, das Nationalstaatskonzept bis zum Imperialismus und den Gedanken einer deutschen Sendung bis zur Forderung nach einer deutschen Weltherrschaft zu steigern, wurde weitgehend verdrängt, als es dem Konservativismus durch Vereinnahmung des Nationalismus gelungen war, die SPD-Anhänger als "vaterlandslose Gesellen" ideologisch in die Defensive zu bringen. Erst mit dem "Augusterlebnis" von 1914, der Wiedervereinigung von Nationalismus und Sozialismus, das sich mit der als Anbruch des Sozialismus ideologisierten Kriegswirtschaft verband, konnte der Lassallesche Ideenkomplex wieder hervortreten. Da aber der SPD die Entschlossenheit fehlte, das Konzept des Kriegssozialismus als nationale Diktatur zum Abschluss zu bringen, konnte sich dieser Ideenkomplex als Nationalsozialismus verselbständigen.
Schüßlburner, Josef, Roter, brauner und grüner Sozialismus, Grevenbroich 2008.
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