Der Fremde
Der Fremde stand auf einer Anhöhe über der Stadt, und blickte gedankenversunken hinauf zu den Sternen. Zu den Sternen, von denen er gekommen war, und zu denen er eines Tages zurückkehren würde.
Vor einigen Jahren war er hier auf der Erde gestrandet... zahllose Lichtjahre von seiner Heimat entfernt.
Er hatte die Warnungen der anderen Reisenden in den Wind geschlagen, die ihm rieten, um diesen unscheinbaren, blauen Planeten und dessen seltsame Bewohner einen weiten Bogen zu machen.
"Sei auf der Hut! Diese Erdlinge sind gefährlich.", sagte man ihm. "Wie man hört, ist Gewalt ein essentieller Bestandteil ihrer Kultur. Sie führen Tag für Tag einen erbitterten Kampf um Nahrungsmittel und Wertgegenstände, sie bedrohen sich gegenseitig mit Waffen, sperren einander in Käfige ein... ja, sie verwüsten sogar ihren eigenen Planeten, obwohl sie genau wissen, dass sie so schnell keinen besseren erreichen werden."
Doch von Horrorgeschichten wie diesen ließ sich der Fremde naturgemäß nicht abschrecken.
Ganz im Gegenteil. Er hatte ein Faible für solche rückständigen Zivilisationen, von denen man nie genau sagen konnte, ob sie noch da sein würden, wenn man das nächste Mal wieder an ihrem Planeten vorbeiflog.
In besonderem Maße wurde sein Forscherdrang dann geweckt, wenn es sich dabei um Humanoide handelte, die körperlich ganz ähnlich beschaffen waren wie er selbst, und ihm so eventuell einen interessanten Blick in die Vergangenheit seines eigenen Volkes ermöglichen würden. Und so beschloss der Fremde, der eigentlich nur auf der Durchreise war, sich diese Erdlinge einmal etwas genauer anzuschauen und einige Daten über ihre aktuelle Gesellschaftsstruktur zu sammeln, um diese dann später den wissenschaftlichen Archiven auf seinem Heimatplaneten zur Verfügung stellen zu können.
Die meisten Informationen, die er in den Datenbanken über den Planeten Erde gefunden hatte, waren schließlich schon über 2000 Jahre alt und nicht gerade aussagekräftig.
"Ein hoffnungsloser Fall.", lautete der letzte Kommentar, den ein offenbar wenig begeisterter Besucher dort über den Planeten abgegeben hatte. "Die Einheimischen besitzen allerdings einen gewissen Unterhaltungswert, wenn man auf bizarre Rituale steht und sich gerne mal als Gott anbeten lassen möchte."
Ein solch kindisches Vorhaben lag dem Fremden natürlich völlig fern.
Vielmehr beschäftigte ihn während seines Landeanflugs auf den blauen Planeten vor allem die Frage, warum es manchen humanoiden Völkern ohne größere Schwierigkeiten zu gelingen schien, ihre animalischen Triebe abzulegen, während andere bis zur Selbstzerstörung ihrer Zivilisation aggressiv und uneinsichtig blieben.
Lag es an ihrem Gehirnvolumen, an den unterschiedlichen Umwelteinflüssen, denen sie auf ihrem Heimatplaneten ausgesetzt waren, oder gab es in der Kulturgeschichte einer jeden intelligenten Spezies einen ganz konkreten Wendepunkt... einen alles entscheidenden Konflikt der unterschiedlichen Weltanschauungen, von dessen Ausgang es abhängig war, ob die gesamte Gesellschaft in Richtung ewiggestriger Stagnation oder kompromissloser Aufklärung kippte?
Und wenn ein solcher Wendepunkt existierte... konnte man ihn dann durch Auswertung aller zur Verfügung stehenden Daten dermaßen exakt vorherberechnen, dass es vielleicht sogar möglich wäre, mit ein paar unauffälligen, aber dafür um so gezielteren Aktionen ein ganzes Volk vor dem drohenden Untergang zu bewahren?
Es waren Gedanken wie diese, die den Fremden dazu bewegten, erst noch einige frühere Reiseberichte miteinander abzugleichen, anstatt unmittelbar nach seinem Eintritt in die Erdatmosphäre die Rekalibrierung des Tarnschildes vorzunehmen, so, wie es ihm eigentlich beigebracht worden war, und wie er es üblicherweise auch stets gewissenhaft zu tun pflegte.
Nur eine kurze Phase der Unaufmerksamkeit, die vielleicht alles in allem nur wenige Sekunden andauerte.... doch diese Sekunden genügten, dass sein Schiff von einem wie aus dem Nichts auftauchenden Flugkörper gerammt und schwer beschädigt wurde.
Der Fremde realisierte sofort nach dem Aufprall, dass an eine Notlandung oder gar eine Rückkehr ins sichere Orbit nicht mehr zu denken war.
Er versuchte zwar noch angestrengt, seine genaue Position zu ermitteln und wenigstens einen kurzen Notruf ins All zu senden... doch angesichts der bereits wild aus den Armaturen des Cockpits schlagenden Flammen musste er auch dieses Vorhaben schließlich ergebnislos abbrechen.
Und so war das Einzige, was ihm noch blieb, hastig die allernötigste Ausrüstung zusammenzupacken und sich dann mit der an Bord befindlichen Rettungskapsel auf die Oberfläche des Planeten zu schießen... gerade noch rechtzeitig, bevor sein Schiff, das ihn in der Vergangenheit an so viele wunderbare Orte getragen hatte, hoch über den Wolken auseinanderbrach und in einem grünlich schimmernden Feuerball verglühte.
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